„Die Lehre sollte nicht so tun, als ob es kein ChatGPT gäbe“

Benedikt Reuse | 6. Februar 2023

ChatGPT gilt als Gamechanger in allen möglichen Bereichen menschlicher Wissensproduktion. Auch der akademische Betrieb wird sich durch die Künstliche Intelligenz radikal verändern. Da ist sich FernUni-Didaktiker Andreas Giesbert sicher.

Der Fachmediendidaktiker an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften setzt sich intensiv mit den Konsequenzen für die FernUniversität auseinander. „Reine Abwehrbewegungen gegen ChatGPT kriege ich zum Glück sehr selten mit – und halte sie ohnehin für zum Scheitern verurteilt. Einfach auch, weil eine große gesamtgesellschaftliche Macht hinter der Entwicklung steht: Wenn allein ein Unternehmen wie Microsoft 10 Milliarden Dollar in ein Produkt investiert, dann wird es auch global kommen.“

Für ihn lautet die Losung daher: Aneignen statt wegducken! „Forschung und Lehre müssen mit der Entwicklung Schritt halten. Ich glaube nicht, dass sie so tun sollten, als ob es kein ChatGPT gäbe“, plädiert Giesbert für eine offene Haltung. Daher gehöre die KI fortan fest auf den akademischen Lehrplan – und in den Werkzeugkoffer. „Man sollte ChatGPT sowohl als Inhalt in der Lehre behandeln als auch als Teil des Methoden-Repertoires berücksichtigen.“

Andreas Giesbert beschäftigt sich als Fachmediendidaktiker an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften mit Künstlicher Intelligenz.

Nicht blenden lassen

Zugleich warnt er aber vor blinder Euphorie: „Es gibt jetzt die Möglichkeit, dem Bot komplexe Fragen zu stellen, die sinnvoll beantwortet werden. Die Ergebnisse gehen weit über Google-Anfragen hinaus. Sogar Forschungsfragen kann die KI rudimentär beantworten. Man darf aber nicht vergessen, dass ChatGPT eigentlich ein ‚Bullshit-Generator‘ ist. Es ist ein System, das auf Wahrscheinlichkeit basiert und nicht auf Wahrheit. Genau das muss man beim methodischen Einsatz reflektieren.“ So scheue sich die kreative KI zum Beispiel nicht, Quellen, Namen oder Zitate frei zu erfinden, um (aus Service-Sicht) zufriedenstellende Ergebnisse auszuspucken. „ChatGPT ist eine kreative Software, die Leerstellen einfach füllt.“ Außerdem müssen sich Nutzende über Verzerrungen und Vorurteile bewusst sein, die das Programm reproduziert. „Darüber kommen wir in einen wissenschaftlichen Prozess. Wir müssen weiter das kritische Denken, die kritische Auseinandersetzung mit Textinhalten üben – also auf wissenschaftlichem Niveau Medienkompetenz erlangen.“

Beeindruckende Möglichkeiten

Bei aller Vorsicht fasziniert den Fachmediendidaktiker das riesige Potenzial der KI – vor allem mit Blick auf deren sprunghafte Verbesserung: „Wir dürfen nicht die Entwicklung vergessen, die uns bevorsteht. Es wird jetzt schon gemutmaßt, dass sich der Datensatz verhundertfachen soll.“ Damit hätte das Programm Zugriff auf Textquellen im Trillionen-Bereich, betont Giesbert. „Es passieren von Monat zu Monat enorme qualitative Sprünge. Und das ist eine Entwicklung, die wir auch in anderen KI-Bereichen beobachten. Zum Beispiel bei Bildgeneratoren.“ KI-gestütztes Schreiben funktioniere auf vielen Wegen: „Zum Beispiel kann mich ChatGPT unterstützen, wenn ich Schreibhürden habe. Es kann Abstracts generieren oder mir helfen, meinen Stil zu verbessern – so kann ich ChatGPT etwa sagen, dass es meine Eingaben stilistisch überarbeiten soll.“

Kontrolle in bestimmten Szenarien

Aber wie lässt sich angesichts der leistungsstarken KI überhaupt noch das Wissen von Studierenden abfragen? Auch hier differenziert Giesbert: „Das Problem sind Klausuren, in denen ich unter Zeitdruck eine Antwort abgeben oder Essays schreiben muss.“ Immerhin gehe es hier nicht um die stilistisch beste oder tiefgründigste Antwort, sondern auch um Geschwindigkeit. „Hier würde ChatGPT wahrscheinlich zuverlässige Ergebnisse liefern, die ich dann per Copy and Paste in die Klausur einfügen könnte.“ Nach Meinung des Didaktikers müssen künftig vor allem einfache Prüfungstypen noch besser digital überwacht werden oder vor Ort stattfinden. „In diesen Fällen kann man gar nicht anders reagieren, als über beaufsichtigte Prüfungsszenarien oder alternative Prüfungsformate nachzudenken.“

„Wir können sogar offensiv mit ChatGPT umgehen und Prüfungsformate entwickeln, die die Nutzung der KI aktiv voraussetzen.“

Prüfung reloaded

Darüber hinaus müsse die Fachmediendidaktik aber vor allem neue Formate finden, die die Nutzung von Künstlicher Intelligenz bewusst miteinplanen: „Ich denke da vor allem in Richtung prozesshafter, multimedialer Portfolio-Prüfungen, die eine permanente Feedback-Schleife zu den Prüfenden bedürfen – und damit eine ständige Aktivität der Studierenden erforderlich machen.“ Lehrende sind hier nicht nur Kontrollinstanzen, sondern auch intellektuelle Sparringspartner*innen, die den Lernenden fortlaufend helfen, sich mit jeder Teilaufgabe zu verbessern. Ohne ständiges Mitdenken und Dranbleiben kommt der Mensch bei dieser dynamischen Methode nicht weiter; der Einsatz von Schreibhilfen wie ChatGPT wäre damit kein K.O.-Kriterium und im besten Fall gewinnbringend für beide Seiten. „Eine Möglichkeit sind auch mündliche Prüfungen – vielleicht gekoppelt an die Besprechung von Hausarbeiten“, so Giesbert. „Wir können sogar offensiv mit ChatGPT umgehen und Prüfungsformate entwickeln, die die Nutzung der KI aktiv voraussetzen.“ Eben so wie in Abitur-Prüfungen ganz selbstverständlich Taschenrechner zum Einsatz kommen.

Erste Hilfe für Lehrende?

Fakt ist: ChatGPT ist keine Zukunftsmusik, sondern längst Realität und vielfach genutzt. Die Server des Entwicklers Open AI scheinen angesichts des gewaltigen Interesses fast rund um die Uhr zu rauchen, sind immer wieder überlastet. Welche Sofort-Tipps hat Andreas Giesbert aus mediendidaktischer Sicht für Lehrende, die von einem Tag auf den anderen mit der neuen KI umgehen müssen? „Also erstens: ChatGPT selber ausprobieren! Man muss es einfach getestet haben, um zu verstehen, was da passiert – und um die fachspezifischen Grenzen zu begreifen. So kann man auch selbst leichter erkennen, welche Einreichung von Studierenden wahrscheinlich von einem Bot erstellt wurden. Das zweite ist: Kreativ und offen damit umgehen! Als Fachmediendidaktik sind wir auf jeden Fall immer ansprechbar für alle. Wir können zwar noch nicht konkrete Antworten auf jedes Problem geben – aber mit etwas Erfahrung in der Sache einschätzen, wie die Situation aussieht.“

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Alle Illustrationen auf den Themenseiten sind vom KI-Bildgenerator DALL-E 2 erstellt worden.