Warum wir ein neues Leitbild für Bildung brauchen
Wahrscheinlich ist das Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt in Bezug auf Visionen schon so oft genutzt worden, dass man es sich kaum mehr traut aufzuschreiben: Zum Arzt müsse jener, der eine Vision habe. Die im Wahlkampf gegebene Antwort sollte verdeutlichen, dass es ums Machen geht, ums Pragmatische und weniger um luftleere Versprechen. Dem kann man sich nur anschließen. Dennoch sage ich mit voller Überzeugung: Wir brauchen eine nationale Bildungsvision. Und zwar weder für die Schublade noch für ein Werbeplakat, sondern um daraus einen ganz praktischen Nutzen zu ziehen.
Geplant: Zusammenarbeit über Grenzen hinweg
An vorderster Stelle werde ich die Leser:innen dieser Kolumne beruhigen: Diese Vision wird hier nicht aufgeschrieben und der Grund dafür liegt schon in dem Ansatz, den ich versuche deutlich zu machen: Es geht um eine Zusammenarbeit, die über Ländergrenzen hinausgeht. Bevor wir uns aber dieser Zusammenarbeit widmen, möchte ich Argumente vorwegnehmen, die wohl schon dann auf der Zunge liegen, wenn das Thema noch gar nicht entfaltet ist.
Eine Bildungsvision ist unpraktisch und im Alltag somit unnötig, so könnte das erste Argument lauten. Und wenn: Der Bund ist nicht für Bildung verantwortlich, könnte das zweite Argument lauten. Man kriegt nicht alle Verantwortlichen an einen Tisch, so das dritte. Wenn sie da wären, würden sie sich nicht einigen, so das vierte. Und wenn man sich einigen würde, dann würde sich keiner daran halten. Kurz: Überhaupt eine solche Forderung auszusprechen, ist im Grunde naiv.
Ich möchte in aller Kürze sagen: Fast alle diese Argumente sind richtig. Außer das erste. Und dennoch möchte ich an dieser Stelle schreiben, warum ich der Auffassung bin, dass wir eine nationale Bildungsvision brauchen.
Gesucht: gemeinsames Verständnis von Lernen
Das Hagener Manifest, zu dem auch der Blog gehört, in dem diese Kolumne veröffentlicht wird, hat in zweifacher Weise gezeigt, warum ein gemeinsames Verständnis über das Lernen sinnvoll ist. Schon in der Einleitung heißt es:
Der digitale Wandel transformiert Gesellschaft und Arbeitswelt tiefgreifend. Im Bildungssystem, in der Bildungspolitik und in der Gesellschaft fehlt jedoch ein angemessenes Verständnis dafür, wie die Digitalisierung auch das Lernen von Grund auf verändert hat – und weiter verändern wird. Schon seit Jahren fordern Bildungsexpert*innen: Unsere Vorstellung vom Lernen, unser Lernbegriff muss sich wandeln. Wir halten es deshalb für überfällig, ein grundlegend neues Verständnis vom Lernen zu entwickeln.
Niemand, der sich in den letzten Jahren mit dem Bildungssystem befasst hat, könnte dem widersprechen. Und das bedeutet nicht, dass man jede einzelne Dimension des Hagener Manifests zum New Learning teilen muss. Es geht um eine Grundlage, von der aus man weiter arbeiten kann, die sich natürlich in der konkreten Gestaltung zeigt: Sowohl im Unterricht und in der Schulleitung als auch als Impuls für politische Entscheidungen.
Zum anderen haben die Initiator:innen etwas getan, das aus meiner Sicht in der Erarbeitung von Konzepten, die die Bildung betreffen, viel zu wenig getan wird: Sie haben Menschen befragt, die aus unterschiedlichen Bereichen eine Expertise mitgebracht haben, die sie haben einfließen lassen. Erst die Zusammenstellung dieser unterschiedlichen Perspektiven ergibt die 12 Punkte für New Learning.
Der letzte Punkt ist dabei für das Thema dieser Kolumne besonders interessant, denn die dort formulierte Forderung lautet: „New Learning braucht eine gemeinschaftliche Bildungspolitik“. Und weiter: „Bund, Länder und Kommunen müssen visionär und kollaborativ zusammenarbeiten, um eine gemeinsame Perspektive für New Learning zu schaffen.“
Gelungen: verschiedene Blickwinkel zu bündeln
Man kann durchaus sagen, dass die Erstellung des Manifests das eingelöst hat, was hier gefordert wird. Es war eben nicht so, dass sich eine einzelne Person hingesetzt und an einem Papier gearbeitet hat, dass dann alle zu unterschreiben hatten. Es geht um die Einbindung unterschiedlicher Perspektiven.
Nun könnte man mit Fug und Recht sagen, dass schon das New Learning eine nationale Bildungsvision darstellt. Das wäre sicherlich nicht falsch. Für mich geht eine solche Vision aber noch einen Schritt weiter.
Während New Learning vor allem das Wie, den Prozess und die Einbindung wichtiger Faktoren für ein neues Lernen darstellt, das sich dem gesellschaftlichen und technischen Wandel nicht verschießt, müsste eine nationale Bildungsvision das Was deutlich machen. Nicht, indem ein weiterer Bildungsplan geschrieben wird. Sondern indem klar wird, was Bildung im 21. Jahrhundert überhaupt leisten soll. Also was da ist, nachdem man gelernt hat.
Ich meine: Das wissen wir nicht. Und weil wir das nicht wissen, wird ein wenig hin und hergeschoben, setzen sich starke Lobbygruppen durch, die ihre Fächer stärken und andere schwächen, ist keiner bereit, auf etwas, das seine Gruppe einmal festgelegt hat, zu verzichten.
Gewünscht: Sinnhaftigkeit
Und da wird es praktisch: Denn wenn uns der Sinn dafür fehlt, warum wir etwas tun, aber davon immer mehr, dann entsteht Frust. Und zwar eine Art von Frust, die man allenthalben beobachten kann: Bei Schulleitungen, bei der Lehrerschaft und vor allem bei den Schüler:innen. Kein Wunder. Wer tut schon gerne etwas, dessen Sinn er oder sie nicht versteht.
Deshalb brauchen wir eine nationale Bildungsvision. Eine, an der – wie es schon beim Hagener Manifest gemacht wurde – verschiedene Menschen arbeiten. Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, aber eben auch Praktiker:innen und Schüler:innen.
Ich gebe es ja zu: Es ist ein naiver Gedanke. Aber einer, den wir bitter nötig haben.