Warum ChatGPT und Co. uns zu den richtigen Fragen treibt
In meiner 10. Klasse, die ich im Fach Englisch unterrichte, führe ich ein alternatives Prüfungsformat durch, das manchen – der sich mit den neuen Dialogsystemen beschäftigt und meine Aussagen dazu verfolgt hat – erstaunen mag. Eigentlich muss man von mehreren Formaten sprechen: Wir lesen gemeinsam ein Buch, aber anstelle einer Klassenarbeit am Ende können die Schülerinnen und Schüler aus einer Vielzahl von kreativen Aufgaben auswählen, deren Auswahl sie allerdings begründen müssen.
Mit anderen Worten: Sie wählen die Art und Weise des Zugangs zu dem Buch selbst, wählen die Mittel und die Art und Weise der Aufgabe. Teil dieser Aufgabe ist es zu reflektieren, wie sie auf die Aufgabe gekommen sind und wie sie sie durchgeführt haben. Außerdem sollen sie angeben, welche Note sie mit der Aufgabe erreichen wollen. Zuletzt geben sie die Quellen und eine Erklärung zur Selbstständigkeit an. Auf diese Weise erlernen die Schülerinnen und Schüler nicht nur, ein Ziel für sich zu definieren, es ist gleichsam Teil des Zugangs, darüber nachzudenken, in welche Aufgabe man mit seiner Zeit und seinem Können investieren möchte.
Aufgaben mit Sinn
Das alles mag viel erscheinen, ist aber Teil meines Zugangs, den Schülerinnen und Schülern nicht ein einzelnes Format aufzudrücken, sondern es ihnen zu ermöglichen, einen Zugang zu finden, der für sie selbst sinnstiftend ist. Gleichzeitig bleibt es insofern eine Prüfungsleistung, dass ihre eigene Reflexion sie daran erinnert, was sie erreichen wollen. Und eben, welches Ziel sie haben.
Dies alles mag in erster Linie nicht viel mit künstlicher Intelligenz, genauer: mit dem neuen Dialogsystem ChatGPT zu tun haben. Aber der Schein trügt – denn: Jede Aufgabe, die ab sofort in der Schule gegeben wird, hat nun mit künstlicher Intelligenz zu tun. Entweder, weil die KI sie durchführt. Oder, weil die KI bei der Erarbeitung hilft. Oder, weil sich jemand bewusst dagegen entscheidet, die KI zu nutzen. Letzteres ist vielleicht die schwierigste Entscheidung, weil sie damit zusammenhängt, bewusst auf Hilfe zu verzichten.
Transparency, please!
Konsequenter Weise habe ich einen Passus eingeführt, der die Nutzung von ChatGPT limitiert (aber nicht ausschließt): Die Schülerinnen und Schüler können ChatGPT nutzen, solange sie damit ihre Arbeit vertiefen oder verbessern. Freilich sollen sie in einem solchen Fall sagen, wie sie es genutzt haben. Die Korrektheit der Sprache ist dabei in Klammern gesetzt, weil die Schülerinnen und Schüler selbstverständlich DeepL – den Online-Dienst für maschinelle Übersetzung – nutzen können, der genau wie ChatGPT auf einem riesigen Sprachkorpus beruht.
Und nun kommen wir zurück zu dem Teil der Aufgabe, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit reflektieren sollen. Es geht eben nicht darum, eine offene Fragestellung vorzugeben, die alle irgendwie beantworten. Sondern unterschiedliche Fragestellungen, deren Beantwortung reflektiert wird.
Reflektiertes Lernen
Es geht um reflektiertes Lernen im digitalen Wandel. Reflektiertes Lernen im digitalen Wandel ist dabei die Zusammenfassung dessen, was zuvor praktisch beschrieben wurde: Ich tue, was ich tue nicht, weil es mir jemand sagt. Sondern ich treffe bewusste Entscheidungen über das, was ich mache. Über das, womit ich es mache. Und über den Weg, den ich einschlage.
These für These: Hagener Manifest
Diese ins Detail gehenden Ausführungen aus der Praxis sollen etwas verdeutlichen, dass das Hagener Manifest vor drei Jahren schon vorweg genommen hat, als die zwölf Thesen von verschiedensten Personen aus Forschung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft formuliert worden sind: „New Learning stellt die Lernenden in den Mittelpunkt“ heißt es da in der dritten These. Und weiter: „Jeder Mensch lernt auf eigene Weise. Darum denken wir New Learning konsequent von den Lernenden her. New Learning unterstützt ihre individuellen Stärken und ihre Einzigartigkeit durch eine persönliche Lernbegleitung als auch digital gestützte Systeme.“
Und etwa in These 6: „New Learning ermöglicht flexibles und selbstbestimmtes Lernen. Lernen in Projekten und über digitale Formate löst den reinen Frontalunterricht nach und nach ab.“
Freilich greifen die Thesen des Hagener Manifests über den einzelnen Unterricht hinaus bis hinein in das institutionelle Grundverständnis des Bildungssystems. Aber die Botschaft ist klar:
New Learning bietet Leitlinien oder Impulse für eine Form des Lernens, das neuartige Entwicklungen als natürlichen Teil des Lernens sieht.
Insofern ist das dargestellte Beispiel genau das: New Learning. Nicht als Standard-Beispiel, sondern als Beispiel für eine Art und Weise, wie die Arbeit mit, über und trotz Medien – und eben künstlicher Intelligenz – aussehen kann. In meinem ersten Text zu ChatGPT erklärte ich, dass die künstliche Intelligenz das Bildungssystem dazu bringt – oder bringen sollte – die richtige Frage zu stellen. Diese formulierte ich wie folgt:
Wie kann Lernen zu einem Prozess werden, der selbst als so sinnstiftend wahrgenommen wird, dass sich in seiner individuellen und dialogischen Vertiefung eine Weiterentwicklung des (jungen) Menschen im Hinblick auf kognitive, physische, persönliche und professionelle Fähigkeiten ergibt? Eine erste Antwort ist:
Wenn die technische Revolution an Geschwindigkeit aufnimmt, braucht es ein neues Lernen, das damit mithält.
Auch die ersten Reaktionen der Schülerinnen und Schüler zeigen in eine fruchtbare Richtung: Es geht weniger darum, welche Note erwartet werden kann. Sondern darum, ob ein Zugang, den sie selbst gewählt haben, angemessen ist. Und in den bisherigen Fällen war er das immer. Kein Wunder, ist es doch Teil der Aufgabe, über den Zugang nachzudenken. Das Ganze kann aber eben auch allgemeiner betrachtet werden.
Lernen neu definieren
Eine Antwort, die sich auf die vorherige Frage ergibt, kann diese sein: In dem das Lernen neu definiert wird. Neu definiert auf eine Art und Weise, die unter den Bedingungen der digitalen Kultur funktioniert. Wenn wieder einmal darüber gesprochen wird, wie wir auf die neueste Version von ChatGPT reagieren sollen, lohnt es sich, den Fragenden auf das Hagener Manifest zu verweisen.
Dort finden sich viele Antworten auf drängende Fragen.
Hallo Bob,
die konkrete Umsetzung inklusive der Arbeitsaufträge, Bewertungskriterien und (soweit von den Schülerinnen und Schülern freigegeben) Arbeitsergebnisse würden den Artikel veranschaulichen und praxisrelevanter machen. Würde mich sehr freuen, wenn du dies teilen könntest.
Hey, ich schaue mal, wie und wo ich das machen kann. Danke für die Rückmeldung.
Hoi Bob, danke für den interessanten Post! Ich schliesse mich Mic an, magst du den konkreten Arbeitsauftrag teilen? Das wäre grossartig!