Hochschullehre New Learning Nicht kategorisiert

Freiheit in der digitalen Lehre

Erving Goffman hat die Metapher der Vorder- und Hinterbühne der sozialen Welt thematisiert. Während die Vorderbühne den Bereich der Inszenierung betrifft, ist die Hinterbühne das, was nicht vom Scheinwerferlicht erreicht wird. Es sind jene Operationen des Sozialen, die das Funktionieren der Inszenierung sicherstellen, aber gerade auch nicht Kraft der Inszenierung den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie folgen. Bezogen auf die Universität im Kontext der Digitalisierung haben wir es auf der Vorderbühne mit einer funktionalen Logik zu tun, die durch ihre formale Kraft den digitalen Wandel an Hochschulen beschleunigt.

Das ist ein Ergebnis der Untersuchungen, die wir in dem Projekt „OrA – Organisationale Adaptivität im Hochschulkontext“ des Forschungsschwerpunktes „Digitalisierung, Diversität und Lebenslanges Lernen. Konsequenzen für die Hochschulbildung”  (D²L² ) feststellen. Wirklich interessant wird es, wenn wir genauer hinsehen und in die Veränderungsdynamik hineinblicken, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde. Hierzu sollten wir einen Schritt zurücktreten, um aus Distanz einen analytischen Gewinn zu erzielen.

Bis zur Effizienzgrenze des Monitorings

In unseren Interviewstudien, die wir mit Lehrenden aus unterschiedlichen Hochschultypen und mit unterschiedlichen Fächerprofilen durchgeführt haben, wurde insbesondere ein kreativer Schaffensprozess betont, der zu Beginn der Pandemie durch die Notwendigkeit zum digitalen Wandel hervortrat. Die Lehrenden experimentierten mit digitalen Tools und tauschten sich in einem kreativen Umfeld von Kolleg*innen und persönlichen Netzwerken aus. Die digitale Lehre war vielerorts so neuartig, dass Evaluationen von Lehrveranstaltungen zu Beginn nicht vollumfänglich vorlagen. Dies stellte für einige Interviewpartner*innen einen besonderen Freiheitsgewinn dar, die sich vorher durch die Evaluationsmaßnahmen in ihrer experimentellen Freiheit eingeschränkt fühlten. Es gibt also eine Effizienzgrenze des Monitorings von der Arbeit von Hochschullehrenden.

Autonomie versus…

Doch betrachten wir den Freiheitsspielraum in der Corona-Pandemie im Hinblick auf die digitale Lehre genauer. Welche Erkenntnisse haben wir für einen steigenden oder sinkenden Freiheitsspielraum in der Corona-Pandemie im Hinblick auf digitale Lehre? Dafür blicken wir hinter die Kulissen auf die sozialen Prozesse, die sich auf der Hinterbühne abspielen. Dort wo die Kraft der Inszenierung erlischt und die tatsächliche Funktion im Vordergrund steht. In der soziologischen Theorie bietet sich zum Verständnis dieser Form des Arrangements sozialer Kreise und Bezugspunkte innerhalb der Universität die Theorie der lose gekoppelten Systeme an. Sie zeichnen sich durch einen hohen Grad an Autonomie aus und sind dezentral strukturiert. Dies ist kennzeichnend für informelle Netzwerke, die dezentralen Autoritäten folgen.

…Heteronomie

Demgegenüber stehen eng gekoppelte Systeme, die einen hohen Grad der Formalisierung aufweisen und heteronom organisiert werden. In unseren Interviews traten gerade die Gegensatzpaare zwischen Autonomie und Heteronomie in den Vordergrund, als die Interviewpartner*innen davon berichteten, dass der bürokratische Apparat mit bspw. seinen Datenschutzanforderungen zu träge und langsam ist und den wirklich notwendigen, schnellen Veränderungen des Digitalen im Wege steht. Daraufhin schufen sich die Lehrenden einen eigenen Freiheitsraum, der mit den Datenschutzerwartungen brach, um im sogenannten Emergency State Handlungsfähigkeit sicherzustellen und den digitalen Anforderungen gewachsen zu bleiben. Der soziale Tatbestand der Datenschutzrichtlinien wurde als Einschränkung der eigenen Freiheit gedeutet, der dem digitalen Fortschritt zuwiderlief. Doch das ist nur eine Seite der Medaille.

Andere Interviewpartner*innen stellten gerade die Organisation der Lehre durch Eingriffe der Hochschulleitung und der Datenschutzbeauftragten in den Vordergrund und betonten, dass dies die Auswahl und Nutzung von digitalen Tools vereinfachte. Es wurden in einem breiten Rahmen Lizenzen angeschafft und Datenschutzvorgaben erfüllt, die den Umgang mit den digitalen Tools und somit digitale Lehre ermöglichten.

Das Prinzip der organisierten Freiheit

Diesen Blick auf die Hinterbühne fernab der Inszenierung einer Universität als funktionierende und legale Organisation gilt es zukünftig zu adressieren, um frühzeitig Problemfelder zu erkennen, die durch ein effizientes und sensibles Monitoring aufgegriffen und zur Strategieveränderung eingesetzt werden können. Für die Bewältigung von Krisen bedarf es gerade dieses authentischen Blickes fernab einer aufmerksamkeitsgeregelten Ökonomie der Hochschullandschaft. Dort sollte das Für und Wider der digitalen Umsetzungspraxis offen angesprochen werden. Dieser authentische Dialog schafft Sicherheiten, die wir mit dem Prinzip der „organisierten Freiheit“ untermauern. Das ist jene Freiheit, die einen geschützten Rahmen bildet, um digitale Lehre unter Bedingungen der Sicherheit zu organisieren, auszuprobieren und zu diskutieren.


Alle Bildnachweise finden Sie auf der Seite Bildverzeichnis

Autorinnen

Dr. Len Ole Schäfer, Postdoc im Forschungsschwerpunkt „Digitalisierung, Diversität und Lebenslanges Lernen. Konsequenzen für die Hochschulbildung” (D²L²) der FernUniversität in Hagen

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