Lernen neu denken.
Das Hagener Manifest zu New Learning


Wie wollen, wie können, wie müssen wir zukünftig lernen?

Der digitale Wandel transformiert Gesellschaft und Arbeitswelt tiefgreifend. Im Bildungssystem, in der Bildungspolitik und in der Gesellschaft fehlt jedoch ein angemessenes Verständnis dafür, wie die Digitalisierung auch das Lernen von Grund auf verändert hat – und weiter verändern wird. Schon seit Jahren fordern Bildungsexpert*innen: Unsere Vorstellung vom Lernen, unser Lernbegriff muss sich wandeln. Wir halten es deshalb für überfällig, ein grundlegend neues Verständnis vom Lernen zu entwickeln.

New Learning ist kooperativ, situiert, kompetenzorientiert und datenintelligent. Digitale und analoge Lehr- und Lernformate wirken über die gesamte Bildungskette zusammen. New Learning stärkt die Selbstbestimmtheit der Lernenden und fokussiert sich auf ihre individuellen Voraussetzungen. Es setzt Inklusion und Chancengerechtigkeit um, fördert Medienkompetenz und Data Literacy und ermöglicht somit Teilhabe und Selbstbestimmung in der digitalen Gesellschaft.

Die Corona-Krise hat den akuten Bedarf noch einmal sehr deutlich gemacht: Laptops und Smartphones, Videoanwendungen, Tools für kollaboratives Arbeiten, Lern-Apps – aus einem scheinbaren „Nice-to-have“ wurde plötzlich ein reales „Must-have“, damit Unterricht und Lehrveranstaltungen überhaupt stattfinden konnten. Bislang trieben nur einzelne Pionier*innen die Lehre mit digitalen Medien voran. Jetzt lernen wir alle eine neue Praxis mit kreativen Lehr- und Lernformaten kennen.

Wir sollten sie als Startpunkt in die Zukunft verstehen – nicht als vorübergehende Notlösung. Das heißt nicht, dass wir uns vom persönlichen Miteinander und von bewährten Präsenzformaten verabschieden. Wir müssen den digitalen Wandel als Chance und gesellschaftliche Anforderung vielmehr angemessen im Bildungssektor verankern. Eine Rückkehr zum alten Status quo der Lernkultur käme einer Kapitulation vor den Herausforderungen der digitalen Transformation im Bildungswesen gleich.

Folgenden Herausforderungen müssen wir uns stellen: Es mangelt Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen nicht nur an der erforderlichen technischen Ausstattung. Es fehlt vor allem auch an Know-how und Erfahrung, wie man digital gut lernt, lehrt und arbeitet und digitale mit analogen Lehr- und Lernformaten produktiv verbindet.

Lernen neu zu denken umfasst also weit mehr als digitale Technik. Ja, es bedarf neuer Infrastruktur, neuer Lernplattformen und neuer Technologien. Ebenso gefragt sind jedoch hybride Lehr- und Lernkonzepte, zukunftsfähige kooperative Organisationsformen in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie innovative politische Förderkonzepte für das Lernen.

Für Lehrende ist der Bedarf an begleitender Weiterbildung immens. Aber auch in allen anderen Berufsfeldern gilt: Wir müssen uns mit neuen Formen des Lernens vertraut machen. Der digitale Wandel wirkt sich auf die gesamte Arbeitswelt aus, Arbeiten und Lernen sind untrennbar geworden – New Work braucht New Learning. Neue Unternehmenskulturen und neue Arbeitskonzepte sind auf neue Lernkonzepte angewiesen: Agiles, kooperatives und vernetztes Arbeiten braucht agiles, kooperatives und vernetztes Lernen. Die Möglichkeit und Bereitschaft, lebenslang zu lernen, sind für das Gelingen dieser Transformationsprozesse wichtige Grundlagen.

New Learning befähigt dazu, den Wandel in Gesellschaft und Arbeitswelt zu verstehen und aktiv mitzugestalten. Es geht nicht darum, sich den technologischen und ökonomischen Anforderungen einfach anzupassen. Zum Kompetenzerwerb im Sinne von New Learning gehört vielmehr auch, konstruktiv und kooperativ miteinander zu lernen, zu agieren und mit den digitalen Wirklichkeiten reflektiert umgehen zu können. New Learning stellt dabei die Lernenden in den Mittelpunkt und ermächtigt sie zum selbstbestimmten lebenslangen Lernen in einer digitalen Lebensrealität.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Konzepte und Richtlinien für New Learning zu erarbeiten. Nur so können wir die Potentiale der Technologien für eine chancengerechte Zukunft nutzen und die Menschen befähigen, in einer digitalen Gesellschaft zu leben.

New Learning bietet die große Chance, gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse zu gestalten und mitzutragen. Darum wollen wir New Learning als gesellschaftlichen Konsens über die Grenzen einzelner Institutionen und politischer Zuständigkeiten hinweg etablieren.

12 Thesen zu New Learning

1. New Learning bedeutet lebenslange Bildung.


New Learning ist fester Bestandteil unserer Lebensrealität. Wir begreifen New Learning als einen lebenslangen Bildungsprozess: vom frühkindlichen und schulischen Lernen über das berufliche und akademische Lernen bis zur Erwachsenen- und Weiterbildung. Dazu gehört auch informelles Lernen, das außerhalb des formalen Bildungswesens stattfindet. New Learning braucht:

    • neue Möglichkeiten und Kompetenzentwicklungen, um selbstbestimmt und selbstorganisiert zu lernen;
    • eine Bildungspolitik, die das Thema Lernen in allen gesellschaftlichen Bereichen verortet und dazu alle Akteur*innen der Bildungsinstitutionen sowie Vertreter*innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft einbezieht.

 

2. New Learning fördert Chancengerechtigkeit.


Alle Lernenden haben ein Recht auf gute Bildung. Es gilt, soziale, materielle und kulturelle Hürden zu beseitigen, um allen Lernenden neue zeitgemäße Wege des Lernens zu eröffnen. Dazu gehört auch der Umgang mit digitalen Medien. New Learning sensibilisiert Lehrende und Bildungsinstitutionen für soziale Spaltungen in der digitalisierten Gesellschaft und ermöglicht Lernenden, die digitale Transformation der Gesellschaft mitzugestalten. New Learning braucht:


 

3. New Learning stellt die Lernenden in den Mittelpunkt.


Jeder Mensch lernt auf eigene Weise. Darum denken wir New Learning konsequent von den Lernenden her. New Learning unterstützt ihre individuellen Stärken und ihre Einzigartigkeit sowohl durch eine persönliche Lernbegleitung als auch durch digital gestützte Systeme, die adaptive Lernumgebungen schaffen. New Learning braucht:


 

4. New Learning denkt die Rollen von Lehrenden und Lernenden neu.


Lehrende sind unserem Verständnis nach weder allwissend noch sollten sie das Lernen alleine bestimmen. Sie verstehen sich selbst als Lernende, die zugleich dem Lernen anderer einen Rahmen geben. Sie entwickeln adaptive Lernpfade, schaffen Freiräume und begleiten kollaborative Lernprozesse. Sie passen ihre Lehre den Bedürfnissen der Lernenden und relevanten gesellschaftlichen Themen an. New Learning braucht:


 

5. New Learning bedeutet vernetztes Lernen.


New Learning heißt für uns, Lernen vernetzt zu gestalten. Lern-Settings müssen sich an die Alltags-, Berufs- und Lebenswelt der Lernenden anschließen. Nur dann befördern sie erfahrungsbasiertes und motivierendes Lernen und schaffen emotionale und sinnliche Zugänge zum Lernen auf vielen Ebenen. Zugleich ermöglicht und erfordert New Learning neue Methoden des vernetzten Lernens, um digitale Medien didaktisch sinnvoll einzusetzen. New Learning braucht:


 

6. New Learning ermöglicht flexibles und selbstbestimmtes Lernen.


New Learning entwickelt die Lernkultur weiter: Lernen in Projekten und über digitale Formate löst den reinen Frontalunterricht nach und nach ab. Menschen lernen individuell, selbstbestimmt, teamorientiert, zeitlich und örtlich flexibel. Sie werden zugleich Teil einer unterstützenden Community, die von und miteinander in gesellschaftlicher Verantwortung lernt. New Learning braucht:

 

7. New Learning misst Lernerfolge an individuellen Zielen.


Wir sind überzeugt: Lernerfolge lassen sich nicht nur an Abschlüssen festmachen. Mindestens genauso wichtig ist es, lernfähig zu sein, zu bleiben und individuelle Ziele zu erreichen (zum Beispiel die Erweiterung des Qualifikationsbereiches oder persönliche Weiterentwicklung). Zu Lernprozessen gehört es dabei auch, Fehler zu machen; eine gelebte Fehlerkultur ist dem Lernerfolg zuträglich. New Learning braucht:


 

8. New Learning sieht Technologie als Chance – ohne Risiken zu ignorieren.


New Learning ist für uns untrennbar mit neuen Technologien wie Künstliche Intelligenz, Learning Analytics, Big Data und Blockchain verbunden. Sie dienen als Grundlage für intelligente und kooperative Lernumgebungen. Diese bieten neue Interaktionsformen sowie individuelle und personalisierte Möglichkeiten des Lernens – erfordern aber auch einen kritisch-reflektierten Umgang. New Learning braucht:

 

9. New Learning steigert digitale (Medien-)Kompetenz und Data Literacy.


New Learning ermöglicht es, souverän, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst in einer digitalisierten Gesellschaft zu handeln. Qualifizierte, technisch geschulte und motivierte Lehrende und Lernende sind unsere Botschafter*innen für Data Literacy. Das schließt auch den informierten Umgang mit digitalen Wissensressourcen und Datenquellen ein. New Learning braucht:


 

10. New Learning garantiert Datenschutz und verhindert digitale Diskriminierung.


Wir wollen New Learning so gestalten, dass Diversität berücksichtigt, Privatsphäre geschützt, transparente Datenrichtlinien entwickelt und ethische Folgenabschätzungen integriert werden. Ein sensibler Umgang mit und eine möglichst sparsame Erhebung von personenbezogenen Daten müssen Grundvoraussetzungen sein, genauso wie der Schutz vor Diskriminierung durch Technologie. New Learning braucht:


 

11. New Learning überwindet Grenzen zwischen Bildungsinstitutionen.


Wir wollen die künstlichen Gräben und Grenzen zwischen einzelnen pädagogisch organisierten Systemen und Institutionen sowie innerhalb von Institutionen überwinden. New Learning braucht:

 

12. New Learning braucht eine neue, gemeinschaftliche Bildungspolitik.


Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickeln sich rasant, der globale Wettbewerb um Talente spitzt sich weiter zu. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen aller bildungspolitischen Akteur*innen in Bund, Ländern und Kommunen. Wir fordern von der Politik: