Der Anspruch von Bildungspolitik, jede Teilkompetenz zu operationalisieren, ist verständlich. Nachhaltige Bildung, die mehr ist als ein lästiges Anhängsel eines Schulhalbjahres, braucht aber mehr als das. Sie braucht Breite und Tiefe.
In einem Tweet, der die momentane Aufregung ums Impfen in ein positives Licht rücken sollte, schrieb ich eine kurze Forderung: Für Bildung mit Langzeitfolgen.
Für Bildung mit Langzeitfolgen!
— Nᴇᴛᴢʟᴇʜʀᴇʀ (@blume_bob) October 27, 2021
Dabei hatte ich kein spezielles Fach, keinen Aufgabenbereich oder eine konkrete Form des Lernens im Kopf, sondern alles zusammen: Ein für den Menschen relevantes Tun. So relevant, dass es bis hinein ins Alter relevant bleibt, eine Person als Individuum prägt, dafür sorgt, dass Entscheidungen getroffen werden können, das Schönheit erlebt und das Miteinander gestaltet werden kann.
Beim Verfassen dieser Zeilen merke ich, wie anspruchsvoll das klingt. Wie befremdlich. Vielleicht sogar esoterisch. Das mag daran liegen, dass wir es gewohnt sind, das Lernen unter dem Diktat der Operationalisierbarkeit zu betrachten. Das Ziel plausibel: Lernen soll nicht im leeren Raum stattfinden, sondern soll wissenschaftlich erforschbar sein, begründbar.
Es ist kein Wunder, dass in der „Stellungnahme zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie ‘Bildung in der digitalen Welt’“, über die ich vor kurzem einen Blogbeitrag schrieb, mit der eine wissenschaftliche Kommission Empfehlungen für die Weiterentwicklung der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ geben soll, dieses Wortungetüm ins Zentrum ihres Papiers stellt: Kompetenzen im Zusammenhang mit der Digitalisierung sollen an Fächer angedockt werden, sollen operationalisierbar und damit überprüfbar sein.
Der Mensch ist nicht operationalisierbar
Was bedeutet das? Eine Operation ist eine Handlung, die in engen Grenzen einen Prozess definiert. Lehrer*innen sind auch angehalten, das zu vermitteln. Die Operation „Beurteilen“ wird dabei in kleinere Einheiten unterteilt, so dass man später sagen kann, dass die Schüler*innen eben etwas beurteilen können. Freilich, und das wird verschwiegen, in einem sehr engen Rahmen. Es geht nicht anders.
Denn wenn ich die Operation „Beurteilen“ ernstnehmen würde, dann würde dies bedeuten, dass Schüler*innen eine zentrale Erkenntnis haben: Es betrifft mich – auch und gerade über die Schule hinaus. Etwas wirklich beurteilen zu können, beinhaltet viel: den Zusammenhang, das Wissen über dessen Entstehen und auch das eigene Zutun. Jemand, der gut beurteilen kann, kann zunächst einmal gut beurteilen, was er nicht beurteilen kann. Das ist aber nicht operationalisierbar. Der Mensch ist nicht operationalisierbar.
Nachhaltige Bildung
Nachdem ich den Tweet geschrieben hatte, wollte ich es genauer wissen. Ich fragte: Welches positive schulische Erlebnis hatte für euch eine Langzeitfolge, war also so nachhaltig, dass ihr später davon profitiert habt?
Die Antworten waren, wie so oft, ein vielfältiges Sammelsurium, das das Herz erquicken lässt. Drei Dinge kamen dabei immer, und immer wieder zum Vorschein: Lehrer*innen, denen die Menschen – die Schüler*innen – wichtig waren. Lehrer*innen, die für das, was sie taten, brannten. Und Unterrichtssettings, in denen die Themen in einer Weise behandelt werden konnten, die ich mit den zwei Begriffen dieser Kolumne versucht habe zu beschreiben: Tiefe und Breite.
Die Oberfläche gewinnt
Tiefe und Breite erzeugt Verstehen und Können. Und zwar auf eine Weise, die nachhaltig ist. Nachhaltig in einem Sinn, der weder operationalisiert noch abgeprüft werden kann. Natürlich wäre es ein utopischer Anspruch, diesen Maßstab an jede Stunde legen zu können. Und es ist die wohl größte Herausforderung von Schulentwicklung, dafür zu sorgen, dass im gemeinsamen Handeln eine solche Nachhaltigkeit entsteht.
Aber wie so oft zeigt sich hier an der einzelnen Stunde, an dem Fach und der Zeit, was nicht möglich ist. Denn die Zwangsoperationalisierbarkeit mag zwar dazu führen, dass ich als Geschichtslehrer behaupten kann: „Ja, wir haben die Industrialisierung gemacht.“ Was es aber wirklich bedeutet, mit einer 8.Klasse jede Stunde mehrere Jahressprünge vorzunehmen, damit man es in einem Schuljahr vom Ende der französischen Revolution bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten mehr als 100 Jahre später schafft, wird dabei verschwiegen. Es bedeutet, dass die Oberfläche gewinnt und die Tiefe und Breite verliert.
Und dabei verliert die Bildung. Denn jeder, der dauerhaft zu wenig Zeit hat, etwas wirklich zu verstehen, weiß, wie unbefriedigend dieses Gefühl ist. Würzen wir es mit einer Überprüfung des Oberflächenwissens und wir haben den Salat.
Tiefe und Breite erzeugt Verstehen und Können
Wir halten fest: Man kann nicht gleichzeitig verstehen, üben, experimentieren, Fehler machen, nochmals üben und nach und nach den Sinn eines Phänomens erkennen, wenn schon am nächsten Tag die nächste Operation darauf wartet, durchgeführt zu werden.
Die Frage ist, wie wir es schaffen könnten, Tiefe und Breite zu erzeugen. Ich würde sagen: Durch eine Einsicht. Eine zwar, aber eine fundamentale: Weniger ist mehr! Lernprozesse mögen operationalisierbar Ergebnisse empirisch analysierbar machen.
Aber wir brauchen mündige Bürger, Menschen, die verstehen, warum Lernen und Bildung relevant ist – und zwar weit über die Schule hinaus. Das lässt sich nicht operationalisieren. Und das brauchen wir auch nicht. Denn das können Computer jetzt schon viel besser als wir.