Anknüpfend an meine bisherigen Überlegungen in meinem vorletzten Buch zur Gestaltung der Hochschulbildung unter den Bedingungen der Digitalität mit Fokus auf Partizipation möchte ich hier daran erinnern, dass es in den Händen aller Akteur_innen liegt, einen gemeinsamen Partizipationsraum zu eröffnen und breit auszugestalten – oder verschlossen zu halten (Mayrberger 2020, siehe hier).
Die nachfolgenden Ausführungen am Beispiel der derzeitigen Online-Lehre sollen praxisnah zeigen, wie wichtig es ist, dass in der Hochschulbildung mittlerweile nicht mehr von Chancengleichheit, sondern von Chancengerechtigkeit gesprochen wird und damit der Fokus nicht auf derselben Lösung für alle, sondern auf die jeweiligen Akteur_innen mit ihren vielfältigen Bedarfen an Lösungen gelegt wird. Noch konsequenter ist es hierbei, direkt auf die Ursachen von Ungleichheit zu schauen und bereits dort tätig zu werden, denn lediglich ihre Folgen beispielsweise mit passenden technischen Lösungen in der Online-Lehre zu kompensieren. Man sieht: Das derzeitige Momentum bietet viel Raum neben dem Sprechen über ein New Learning oder New Normal auch in die diversitätsorientierte Umsetzung zu kommen!
Nur Kacheln voneinander entfernt
Die Frage, was einen diversitätsgerechten Zugang ausmacht, liegt derzeit mitunter nur (Videokonferenz-) Kacheln voneinander entfernt – so erlebe ich es beispielsweise in meiner eigenen Lehre, in einem berufsbegleitenden, postgradualen Online-Masterstudiengang. Da ist es selbstverständlich, wenn auch einmal der Nachwuchs kurz neugierig mit in die Kamera blickt oder auch der kurze Hinweis kommt, dass das Video kurz ausgemacht werde, weil der noch sehr junge Nachwuchs versorgt werden müsse, doch man weiter zuhöre und dabei sei. Und ein anderes Mal erlebe ich genauso, dass eine einzelne Kachel dunkel bleibt oder das Bild wiederholt einfriert, weil die technischen Rahmenbedingungen in diesem Moment nicht verlässlich mitspielen oder der Netzzugang aus der ländlichen Heimat nicht stabil möglich ist; und damit die Teilnahme quasi fast unmöglich wird (so nicht einmal die Telefoneinwahl funktioniert). Es gibt sicher Beispiele, die genau die umgekehrte Perspektive für Präsenzveranstaltungen illustrieren und statt einer schwachen Netzverbindung ebenso die Bus- oder Bahnverbindung zur Veranstaltung vor Ort plötzlich ausfallen könne. Der Zugang für alle ist gleich, doch was ist hier nun gerecht oder ungerecht? Und wo war bisher die tatsächliche Möglichkeit zur Teilhabe und Partizipation?
Tatsächliche Partizipation
Eine tatsächliche Partizipation kann dort stattfinden, wo die jeweiligen Akteur_innen nicht nur vorgeblich beteiligt werden, sondern sie tatsächlich die Verantwortung übertragen bekommen und Möglichkeit erhalten, mitzuwirken, mitzubestimmen und selbst zu bestimmen – ja möglicherweise keine Verantwortungsübergabe mehr nötig ist, weil sie von Seiten der Organisation den Rahmen erhalten, sich selbst zu organisieren, also über Partizipation hinaus miteinander zu agieren (siehe visualisiert u.a. hier). Gelingen wird tatsächliche Partizipation und das Eröffnen eines Partizipationsraums vermutlich eher dort, wo eine zeitgemäße Perspektive auf Hochschulbildung kultiviert wird und damit auch eine Sensibilisierung für Ungleichheit und die spezifischen Bedürfnisse und Perspektiven der Lernenden; dort, wo Begegnungen und Beziehungen wertgeschätzt und gepflegt werden, Kommunikation, Vernetzung sowie Perspektivenvielfalt und konstruktiver Streit alltäglich sind. Technologien können solche Relationen ermöglichen und ebenso beeinflussen wie auch flexibler werden lassen.
blended neu interpretieren
Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass bei der Gestaltung und Ermöglichung von Hochschulbildung (mit Technologie) – so man die Idee von Bildungsgerechtigkeit ernst nimmt – jedes Bildungsangebot für jede_n ohne Barrieren zugänglich wird. Dafür gibt es vielfältige Wege und seit den vergangenen Semestern liegen nunmehr auch so vielfältige praxisbezogene Erfahrungen in vielen Bereichen von Hochschulbildung vor, dass sich eine entsprechende Gestaltung von zeitgemäßer Hochschulbildung auch in Praxis und Praktiken übersetzen lässt und nunmehr greifbar wird – und zum Nachmachen einlädt. Die Chance liegt nun darin, diese Erfahrungen nicht allein dafür herzunehmen, beispielsweise zwischen analog und digital oder synchron und asynchron aufzuteilen, sondern diese weiterhin klug zu entwickeln und sinnvoll zu kombinieren und zu vermischen, bis es passt – und damit ein Blending über alle Bereiche der Hochschulbildung hinweg anders und mitunter völlig neu auszuhandeln und im Sinne einer Digitalität der Hochschulbildung auch umzusetzen!
Rahmen eröffnen
Den ermöglichenden Rahmen für die emergente Entwicklung solcher möglichst diversitätssensibler Praktiken bildet die Hochschule als Organisation im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. Diese Aufgabe ist sicher für einige anspruchsvoller als für andere und bedarf vermutlich einer spezifischen Form von Leadership, die jede_r im jeweiligen Handlungsbereich entwickeln und übernehmen kann – die in meinem aktuellen Buch vorgestellten Überlegungen zu einem Agile Educational Leadership (siehe hier) bieten hier eine Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit für solche komplexen Herausforderungen auf organisatorischer und vor allem personaler Ebene zu entwickeln.
Und in diesem Sinne trägt die Hochschule mit ihrem Bildungsauftrag auch dafür Verantwortung und mit ihren Entscheidungen dazu bei, dass über die diversen Zugängen als grundlegende Voraussetzung auch demokratische Teilhabe ermöglicht und vor allem beim gemeinsamen Lernen kultiviert wird. Und zwar echte oder tatsächliche Partizipation im Kontext der Hochschulbildung!
Momentum für mehr Bildungsgerechtigkeit
Schließlich wird es bei einer Hochschulbildung im Wandel unter den Bedingungen der Digitalität, wie sie Prof. Felix Stalder im Kontext von Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität beschreibt (siehe ausführlicher hier), vor allem darum gehen, wie sich derzeit emergent entwickelnde Praktiken in welcher Weise oder quasi in welchem Verhältnis von blending durch gemeinsame Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse entwickeln. Dieses Gemeinsam als Grundlage verändernder Praktiken im Anschluss an die vielfältigen Erfahrungen und Sensibilisierung für diverse Lösungen der letzten Monate sollte niemand verschenken und daher neben einem Zugang für alle (zumeist auf Ebene der Infrastrukturen), auch den nächsten Schritt der tatsächlichen Partizipation und Empowerment ermöglichen, damit möglichst viele Akteur_innen in ihrer Diversität an der Hochschulbildung tatsächlich durch Praktiken und Praxis mitgestalten können – und insofern gemeinsam ein New Learning mitbestimmen.
In den sich derzeit emergent entwickelnden Post-Corona-Praktiken liegt die große Chance – wenn nicht gar ein Momentum – tatsächliche Bildungsgerechtigkeit von Beginn an in allen Bereichen der Hochschulbildung diversitätssensibel zu realisieren. Der Partizipationsraum dafür ist eröffnet!