Es gibt gerade keinen Bereich von Schule, den man nicht verändern könnte. Am meisten aber erscheint das zu fehlen, was jeder zum Lernen braucht: Zeit und Raum.
Während in einigen Bundesländern die Lehrer*innen schon wieder mit ihrer in den Ferien gesammelten Erholung am Ende sind, weil das nächste Schuljahr mit der unerbittlichen Gewalt bürokratischer, persönlicher und sonstiger schulischer Anforderungen auf sie hereingebrochen ist, lugt zwischen meinen Mails der Newsletter eines Sommerhotels hervor, das meine Familie und ich erst vor drei Wochen verließen. Ob ich Lust auf eine Auszeit hätte? Habe ich, dabei habe ich noch gar nicht angefangen.
Der Begriff Auszeit ist eigentlich missverständlich, denn die meisten von uns tun in der Auszeit irgendetwas. Nur eben nicht das, was sie tun müssen. Das Nicht-Tun, wenn man muss, wird seit geraumer Zeit mit dem sperrigen Begriff „Prokrastination“ bezeichnet. In einem Aufsatz der Freien Universität Berlin heißt es dazu: „Der Ausdruck (…) bezieht sich darauf, als dringend und notwendig betrachtete Aufgaben aufzuschieben und stattdessen etwas anderes, von geringerer Priorität und weniger Essenzielles zu machen.“ Aus diesem Grund wird die Prokrastination auch „Aufschieberitis“ genannt, meist als Diagnose für Student*innen, deren Hausarbeiten sich bis zum Tag vor der Abgabe exzessivem Netflixkonsum unterordnen müssen. Ist dies also das Plädoyer fürs Aufschieben, fürs Nicht-Hinbekommen, für das Binge-Watchen im jetzigen Schuljahr? Nicht ganz.
Anforderungsparadoxa
Als ich um etwa halb Sieben in einem Tweet fragte, was momentan das wichtigste Thema rund um Schule sei, dachte ich mir schon, dass nicht wenige Antworten kommen würden. Aber mit fast 50 Antworten in kurzer Zeit, habe ich nicht gerechnet. Und auch nicht mit fast 100 nach einem Tag. Zu jeder einzelnen Antwort – es geht um Inklusion, Mangel an Zeit, marode Schulgebäude, Schulentwicklung, Digitalisierung und vieles mehr – könnte man eine Kolumne schreiben. Und mehr: Jemand schrieb, dass sich daraus ein Konzept für eine ganz neue Schule schreiben lasse, die im Übrigen auch einige Kommentare forderten. Im #twitterlehrerzimmer zeigen sich das Paradoxon der momentanen schulischen Situation: Immer mehr machen müssen bei immer weniger Zeit. Und das ist nicht erst seit Corona so.
Aber Corona hat dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt, weil in Zeiten von Hybridunterricht, dessen Konzepte auch jemand schreiben musste, Zeit für alles andere fehlte, gleichzeitig aber möglichst alles weitergeführt werden sollte, was schon ohne eine weltweite Pandemie ein Ding der Unmöglichkeit darstellen würde. Es ist so: Als Lehrperson muss man irgendwo Abstriche machen und nicht wenige Lehrer*innen machten diese bei sich selbst. Das ist einer der Gründe, warum für viele die Ferien weniger erholsam waren als jene davor. Ein guter Freund sagte mir: Um die letzten eineinhalb Jahre zu verarbeiten, bräuchten eigentlich alle ein Sabbatjahr. Wie Recht er hat.
Die Vergessenen
Das i-Tüpfelchen auf der Situation ist die Tatsache, dass die sowieso von der Politik vernachlässigten Kinder und Jugendlichen natürlich am unteren Ende der Maschinerie sind. Frei nach Hesse könnte man sagen: Unterm Rad. Und wenn nun jemand einwenden wollte, dass es doch immer nur um die Jugendlichen ging und das nun alles getan wird, damit es weitergeht, dann würde ich freundlich, aber bestimmt fragen, was „alles“ und was „es“ ist.
Denn dass nicht alles getan wird, zeigt sich ja schon in den fehlenden Luftfiltern – von beschädigten Fenstern fürs Lüften mal ganz zu schweigen. Viel wichtiger ist aber das „Es“. Das Es meint nämlich meistens zwei Dinge: Stoff und Klausuren. Wir müssen nicht darüber sprechen, dass schulische Inhalte und vor allem die damit zu erlernenden Kompetenzen gerade nach diesen schwierigen eineinhalb Jahren eine Rolle spielen müssen. Die Frage ist aber: Ist das das Wichtigste? Und damit sind wir wieder bei der Definition der Prokrastination.
Locus amoenus
Denn was genau sind denn in der Schule jene dringenden Aufgaben, die man gar nicht aufschieben kann? Ist es nicht wichtiger, nach diesen heftigen und wilden Jahren voller Frust, manchmal Angst und Überforderung, gemeinsam durchzuatmen? Sich Geschichten zu erzählen und sich zuzuhören? Nicht auf die Uhr schauen zu müssen, weil Zeit ist?
Aber das ist nicht die Realität. In der Realität wird getestet, werden neue Pläne geschrieben, wird gepaukt. Keine Zeit, schnell testen. Keine Zeit, schnell noch die nächste Seite, damit wir nächste Woche da sind, wo wir schon sein müssten.
Man verzeihe mir, dass ich etwas hochgreife und fordere: Schule müsste ein Locus amoenus sein. Ein als Topos aus der Literatur bekannter schöner, ja, ein lieblicher Ort des gemeinsamen Lernens, der auch Müßiggang einplanen würde. Das ist das Wort, das die Prokrastination in ihr positives Gegenteil wandelt. Ein entspanntes, von Pflichten freies Ausleben der Muße.
Bartleby
Wenn also das dringend Notwendige der Stoff und die Testung ist, dann sage ich: Prokrastination! Jetzt! Nicht umsonst wird allerorten eine Lernkultur gefordert, die neue Freiheiten, Kollaboration und eigenverantwortliches Lernen fördert – man mag sich nochmals das Hagener Manifest vor Augen führen, in dem dies nicht nur als wichtiger Punkt benannt wird, sondern auch gefordert wird: „Zeit für den produktiven Austausch.“ Ich fordere mehr: Ich fordere hiermit Zeit für den unproduktiven Austausch! Zeit dafür, Menschliches, Allzumenschliches in den Mittelpunkt der Schule zu nehmen. Das haben wir nämlich zwei Jahre verpasst.
Es gibt eine Erzählung vom amerikanischen Schriftsteller Herman Melville, an die ich in letzter Zeit oftmals denken musste. In seinem Bartleby the Scrivener (dt. Bartleby der Schreiber) geht es um einen Schreibgehilfen in einer Anwaltskanzlei, der nach einiger Zeit das gesamte System ins Wanken bringt, weil er auf Aufgaben, die ihm gestellt werden, antwortet: „Ich möchte lieber nicht.“ Wir alle kennen diesen Gedanken, aber trauen uns kaum, ihn auszusprechen. Ich mache das an dieser Stelle stellvertretend: Es gibt momentan zu viele Dinge, die möchte ich lieber nicht.
Mein größter Wunsch wäre, da schließe ich mich einem weiteren Kommentar aus dem Twitterlehrerzimmer an, Ruhe. Ruhe, Zeit und Raum. Fürs Lernen. Fürs Lachen. Fürs Diskutieren. Und manchmal, ja manchmal sogar dafür, das aufzuschieben, was eigentlich gar nicht so wichtig ist, wie es immer heißt.